William Callahan untersucht Tianxia,
eine globale Weltsicht, die unter chinesischen
Intellektuellen große Beachtung gefunden hat.
4. Dezember 2008
Von LELISE GOBENA
Lelise Gobena ist eine USC-Studentin der Politikwissenschaft.
(USC = University of Southern Carolina)
-Übersetzung aus dem Amerikanischen von Günter Nicke-
Während Chinas Wirtschaft schnell wächst, wird sein Einfluss
zunehmend nicht nur in Ostasien, sondern auf der ganzen Welt spürbarer.
Dies erfordert nicht nur einen Blick auf Chinas Außenpolitik, sondern
auch auf deren eingehendere Analyse. Wie sieht China selbst seinen
Platz in der Welt? Wie beschreibt es seine Beziehungen zu anderen?
William Callahan versuchte eine Analyse dieser Fragestellungen in einer
Präsentation im September 2008 auf der USC: "Sicherheit, Identität und
der Aufstieg Chinas: Pekings außenpolitischer Diskurs im 21. Jahrhundert."
In diesem Vortrag untersuchte der Wissenschaftler der Universität
Manchester, wie sich die jüngste Wiederbelebung des alten chinesischen
Tianxia-Konzepts auf Chinas außenpolitische Grundsätze im 21. Jahrhundert
ausgewirkt hat. Callahans Präsentation stützte sich auf Ideen, die in seinem
damals kurz vor der Veröffentlichung stehenden Buch: Chinesische Visionen
der Weltordnung: Posthegemonial oder eine neue Hegemonie enthalten waren.
Er untersuchte Chinas alternative Visionen von der Welt, wie sie ist oder
wie sie verbessert werden könnte, und bewertete, wie solche Ideen Eingang
in Pekings Außenpolitik gefunden haben.
Callahan begann seinen Vortrag mit der Feststellung, dass China zwar
zunehmend als verantwortungsbewusstes Mitglied der internationalen Gesellschaft
wahrgenommen wird, wir aber auch sehen müssen, dass die
chinesische Regierung die Struktur dieser Gesellschaft nicht
unbedingt als nachhaltig wünschenswert akzeptiert.
Wissenschaftler und Diplomaten beachten deshalb Chinas
zunehmendes Interesse und politische Realisierungs-
anstrengungen, eine Alternative zum eurozentrischen
Modell der internationalen Beziehungen zu fördern.
Andrerseits nimmt Callahan zur Kenntnis, dass viele
westliche Experten nicht glauben, dass China die
bestehenden internationalen Beziehungen wohl
herausfordern wird.
Zhao Tingyang, Er findet es aber auch wichtig mitzuverfolgen, wie eine
Das Tingxia-System (2005) idealisierte Vision der imperialen Vergangenheit
Chinas von chinesischen Gelehrten und politischen Entscheidungsträgern
diskutiert wird.
Diese Vision vom zukünftigen Chinas Platz in der Welt wird in den
öffentlichen Diskussionen in China immer deutlicher.
Callahan meint, dass Tianxia der Behauptung der chinesischen Regierung
zuwiderläuft, dass diese sich für eine friedliche Entwicklung innerhalb
eines stabilen internationalen Systems einsetzt. Tianxia oder
„alles unter dem Himmel“ rückte im populären Diskurs durch ein
Bestseller-Buch des bekannten Philosophen Zhao Tingyang an der
Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften in den Mittelpunkt.
Callahan konzentriert sich auf diese Arbeit und die Diskussion,
die sie eingeleitet hat.
Zhao Tingyang veröffentlichte
2005 das Tianxia-System:
Eine Philosophie für die Weltinstitution.
Callahan führte einen Großteil der
Popularität des Bestsellers auf seine
Fähigkeit zurück, das Interesse der
Menschen an Lösungen für weltweite
Probleme im chinesischen Stil zu
wecken und die einzigartige Art und
Weise, in der das Konzept der Tianxia die scheinbar widersprüchlichen
Diskurse von Nationalismus und Kosmopolitismus miteinander verbindet.
Callahan untersuchte Chinas alternative Weltanschauung in drei Teilen.
Zunächst fasste er Zhaos Diskussion darüber zusammen und überlegte, wie das
allumfassende Tianxia-System die Probleme der Welt durch eine
Weltinstitution lösen würde, die Unterschiede in sich umfasst und einschließt.
Callahan untersuchte dann einige der historischen und philosophischen
Probleme, die Tianxia aufwirft, vor allem in Richtung der ethischen
Anforderungen an eine Weltordnung, die auf Ausgleichen von Unterschieden
und nicht auf deren Unterdrückung ausgerichtet ist.
Schließlich bewertete Callahan die Auswirkungen von Tianxia auf das
In- und Ausland. Callahan sagte, dass laut Zhao das Problem in der
internationalen Politik heute nicht ein gescheiterter Staat ist, sondern
eine gescheiterte Welt, in der ungeordnetes Chaos herrscht. Nach Zhaos
Theorie entsteht Chaos nicht aus wirtschaftlichen oder politischen
Problemen, sondern aus den Konzepten, die die Welt ordnen.
Zhao argumentiert, dass das chinesische Konzept der Tianxia einen
analytischen und institutionellen Rahmen bieten kann, der zur
Beendigung des Chaos erforderlich ist.
Zhaos Konzept von Tianxia hat drei Bedeutungen - eine geografische,
eine psychologische und die institutionelle -, die alle wesentlich
sind und sich gegenseitig bedingen.
Mit geografisch meint Zhao, dass Tianxia mehr als ein
physischer Ort ist, sondern eine Art, an die Welt zu denken,
die nicht natürlich aus einer nationalen Perspektive beginnt.
Psychologisch gesehen verknüpft Zhao das Konzept der Tianxia
mit „allen Menschen“, in denen es keine „Außenstehenden“ gibt,
weil es in chineschen Denkmustern den „Anderen“ nicht gibt.
Laut Callahan steht der chinesische Begriff der kulturellen Einheit
im Sinne Zhaos dem westlichen Begriff entgegen, in dem sich
kulturelle Vielfalt mehr aus rassischer Sozialisation ergibt.
Letztendlich behaupte Zhao, dass es bei Tianxia um Transformation
geht: Feinde werden in Freunde und Viele in Eines verwandelt.
Laut Callahan ist Zhao der Ansicht, dass das Tianxia-System,
um erfolgreich zu sein, global implementiert werden muss.
Callahan meint zusammenfassend, dass Zhaos theoretische Annahmen
zwar originell sind und viel Diskussionsstoff bieten, sich jedoch
wissenschaftlich wenig fundiert sind. Sie basieren hauptsächlich
auf ausgewählten Aussagen aus Chinas reichem literarischen Erbe.
Viele davon, sagte Callahan, wären aus dem Zusammenhang gerissen
und falsch dargestellt.
Callahans schwerwiegendste Kritik an Zhaos Interpretation von
Tianxia war, dass er es als ein All-Inclusive-System beschreibt,
obwohl offensichtlich das Gegenteil der Fall ist. Callahan meint,
dass mit Tianxia in Wirklichkeit Ausgrenzung und hierarchische
Inklusion erreicht wird, um den Westen, die Menschen und andere
Nationen entlang der chinesischen Grenze zu marginalisieren.
Obwohl Zhao westliche dialektische Argumentationsweisen kritisiere,
verwende er dieselbe Denkmethode, um den Westen als den „Anderen“
und als Quelle des unmoralischen individualistischen Denksystems
dazustellen und damit aus dem Tianxia-Verbund auszuschließen.
Callahan behauptete weiter, dass Zhao die Menschen in seiner Arbeit
von der Teilnahme an Tianxia ausgeschlossen habe, indem er
behauptete, die Massen seien nicht in der Lage, die Welt zu
durchdenken, und man könne daher nicht darauf vertrauen, dass sie
wirklich im Weltinteresse handeln könnten.
Zwar schlösse Zhao die Menschen nicht offen aus, versetzte sie aber
als einfache Leute in einen minderwertigen Status und unterstelle
ihnen Eigenschaften wie „egoistisch, verantwortungslos und dumm“.
Die größte Schwäche von Zhaos Interpretation von Tianxia ist laut
Callahan, dass es global angewendet werden soll, um alle einzubeziehen.
Diese Inklusivität übersieht einen grundlegenden Punkt:
Nicht jeder möchte einbezogen werden.
Callahan behauptet, Zhao würde das, was er den Westlern vorwirft,
nämlich ihre eigene Weltanschauung zu universalisieren, selbst für
Tianxia in Anspruch nehmen.
Es sei wichtig, darauf zu achten, wie Tianxia mit Unterschieden
umgeht. Callahan sagte, dass es sie eher übersieht, als
Unterschiede zu tolerieren. Anstatt den Entwurf einer
posthegemonialen Weltordnung zu präsentieren,
sieht Callahan in Tianxia eine neue hierarchische
Vision für das 21. Jahrhundert.
So wie Zhaos Arbeit eine große Diskussion unter chinesischen
Intellektuellen und unter Wissenschaftlern der internationalen
Beziehungen angeregt hat, löste Callahans Thesen darüber eine
lebhafte Frage-und-Antwort-Sitzung im USC aus.
Dabei kam die Diskussion immer wieder auf Callahans
Feststellung zurück, dass Ideen über Tianxia häufig in
kulturelle Aktivitäten und Präsentationen der Sponsoren
der chinesischen Regierung im Ausland eingebettet sind.
Andere Fragen konzentrierten sich auf konkrete internationale
Situationen wie Chinas Engagement in Afrika und wie dieses
Engagement in China verstanden wurde. Ging es nur
vordergründig um Tianxia-Ideen oder ging es in Wirklichkeit
um den Zugriff auf Ressourcen, die von einer aufstrebenden
Macht benötigt werden?
Andere Teilnehmer stellten fest, dass Tianxia in der Antike zwar
theoretisch allumfassend war, praktisch jedoch nur unmittelbare
Nachbarn von der Akzeptanz des Konzepts durch chinesische
Regime betroffen waren. Wie haben Wissenschaftler und Beamte
der Nachbarstaaten auf den zunehmenden Tianxia-Diskurs in China
reagiert? Und vor allem, welche Beweise gibt es dafür, dass
der Tianxia-Diskurs tatsächlich die politischen Entscheidungsträger
beeinflusst? Lesen Spitzenbeamte der chinesischen Regierung
Zhaos Buch und die Veröffentlichungen einer Reihe
von Schriftstellern? Leiten Tianxia-Ideen das chinesische Handeln?
Callahan machte weiter darauf aufmerksam, dass Tianxia bei weitem
nicht das einzige Konzept sei, das von chinesischen Intellektuellen
untersucht wird, und dass die chinesische Führung die Idee nicht
öffentlich und ausdrücklich akzeptiert habe. Er meinte jedoch, dass
die Bemühungen, Konfuzius-Institute auf der ganzen Welt zu gründen,
die Kenntnisse über die chinesische Kultur und die Vorstellungen
über Chinas Ideen, wie die Welt geordnet werden könnte,
fördern sollten.
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William A. Callahan wurde im September 2005 auf den Lehrstuhl
für internationale Politik und Forschung des neuen interdisziplinären
Zentrums für Chinesische Studien an die Universität von Manchester
berufen, lehrte an der University of Durham, der University of Oregon,
der Renmin University of China, der Seoul National University
und der Rangsit University (Thailand) und war Visiting Fellow
an der Harvard University, dem Bellagio Center (Italien) und der
University of Hong Kong, die Academia Sinica (Taiwan)
und CASS (China). Seit 2007/08 ist er Resident Fellow am
Woodrow Wilson International Center for Scholars
(Washington, DC).
Callahans Forschung umfasst die internationale Politik Ostasiens,
einschließlich der chinesischen Außenpolitik und der transnationalen
Beziehungen, die Ostasien, Südostasien und Euro-Amerika verbinden.
Er interessiert sich für die Erforschung der Schnittstelle zwischen
Theorie und Praxis in der internationalen Politik: Wie die ostasiatische
Politik einerseits besser theoretisiert werden muss und wie die
chinesische Erfahrung andererseits die Grundlagen der Theorie
der internationalen Beziehungen in Frage stellt. Callahans jüngste
Bücher sind:
Großchina und transnationale Beziehungen (Minnesota, 2004)
Cultural Governance and Resistance in Pacific Asia (Routledge, 2006).
Er hat Artikel in vielen Zeitschriften veröffentlicht.