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Hier findet man zeitlich weiter zurückliegende Bearbeitungen von Themen, die seit
Längerem nicht mehr diskutiert werden.


Erde heben

 

30.03.2020

Schon in 2009 habe ich unter dem Titel "Überfällige Antworten" meine Gedanken zu
drei rein zufällig gewählten Buch-Veröffentlichungen entwickelt, die  schon seinerzeit
unsere Thematik ""Eine Erde - Eine Heimat - Eine Menschheit" mit Schwerpunkt
"Bildung" widerspiegelt.

Es geht um „Der Zorn der Verdammten” aus „Blick aus meinem
Fenster” von ORHAN PAMUK, Literatur‐Nobel‐Preisträger

„Die Demokratie – ein Auslaufmodell” ‐ Immer weniger Deutsche
sind von der Demokratie überzeugt. Wer oder was kann sie noch
retten? VON HARALD WELZER aus „Die Welt” 2.8.2008 und

„Schluss mit lustig” von PETER HAHNE, Kapitel ‚Holt Gott zurück’
Seite 84 ff.


(Sowohl das folgende "Yumpu"-Magazin als auch die der besseren Lesbarkeit
folgende Textfassung darf ausschließlich für den Eigenbedarf heruntergeladen werden.

 

Überfällige Antworten

Sie sind herzlich eingeladen, sich nach dem Lesen dreier Literatur- bzw.
journalistischer Beiträge, die nur insofern etwas mit einander zu tun haben, als sie
existenzielle Fragen unserer Zeit behandeln, sonst aber hier völlig zufällig
nacheinander aufgeführt sind, mit mir um Antworten auf die aufgeworfenen Fragen
zu bemühen.
Dabei würde ich mich freuen, mit Ihnen auf der Grundlage meines den drei
Beiträgen folgenden Antwortversuchs in einen Gedankenaustausch zu treten.
Aber lassen Sie uns zunächst die Beiträge lesen:

Der Zorn der Verdammten
Aus „Blick aus meinem Fenster” von ORHAN PAMUK


Katastrophen stärken, scheint mir, das Zusammengehörigkeitsgefühl im Menschen.
Nach den großen Istanbuler Bränden in meiner Kindheit oder dem Erdbeben vor
zwei Jahren trieb es mich sofort hinaus, um die Katastrophe mit anderen zu teilen,
über sie zu sprechen. Diesmal, als die Zwillingstürme in New York brennend
einstürzten, saß ich in einem kleinen Istanbuler Raum, in einem Kaffeehaus neben
einer Anlegestelle, dessen Kunden meistens Pferdekutscher, Tuberkulosekranke
und Lastenträger sind, und fühlte mich vor dem Fernseher schrecklich allein.
Gleich nachdem das zweite Flugzeug den Turm gerammt hatte, waren die
türkischen Fernsehsender zur Live-Berichterstattung übergegangen. Die kleine
Menschengruppe im Kaffeehaus betrachtete die unfassbaren Bilder auf dem
Fernsehschirm mit distanziertem Erstaunen, verwundert, aber nicht erschüttert.
Einen Augenblick lang war ich versucht, aufzustehen und zu den Leuten im
Kaffeehaus zu sagen: »Ich habe zwischen diesen Gebäuden gelebt, bin völlig
abgebrannt diese Straßen entlang gebummelt, habe mich mit Leuten in diesen
Türmen getroffen - ich habe drei Jahre in Manhattan verbracht.« Aber wie in einem
Traum, in dem der Mensch sich immer einsamer fühlt, brachte ich kein Wort
heraus.

Weil ich nicht mehr ertragen konnte, was dort geschah, und weil ich mit jemandem
teilen wollte, was ich gesehen hatte, ging ich auf die Straße. Ich sah in der Menge,
die an der Anlegestelle auf den Stadtdampfer wartete, eine Frau, die weinte. Ich
spürte sofort an der Stimmung der Frau und an den Blicken der Umstehenden, dass
sie nicht weinte, weil ihr jemand in Manhattan nahe stand, sondern weil das Ende
der Welt nahe war. In meiner Kindheit, in den Tagen, in denen sich die Kubakrise
zum dritten Weltkrieg zu entwickeln schien, hatte ich Frauen gesehen, die in
ähnlicher Verzweiflung weinten, während Istanbuler Mittelklassefamilien ihre
Speisekammern mit Linsen- und Nudelpackungen füllten. Dann drehte ich mich

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um, ging wieder in das Kaffeehaus und betrachtete eine Weile wie der Rest der
Welt gebannt die Bilder auf dem Fernsehschirm.

Später begegnete ich einem Nachbarn auf der Straße. »Orhan Bey hast du gesehen,
sie haben eine Bombe auf Amerika geworfen«, sagte er. Dann fügte er aufgebracht
hinzu: »Das haben sie gut gemacht!« Dieser keineswegs besonders islamistisch
eingestellte Alte ist einer, der versucht, sich mit kleinen Reparaturen und
Gartenarbeiten über Wasser zu halten, der abends einen hebt und dann mit seiner
Frau streitet. Er hatte wohl die schrecklichen Bilder im Fernseher nicht gesehen,
sondern nur gehört, dass jemand den Amerikanern Böses zugefügt hatte. Ähnliches
wie seinen ersten Zornesausbruch, der ihm in den nächsten Tagen sicher leid getan
hat, habe ich später von zahlreichen Leuten gehört. Ganz selbstverständlich: Wie
auch anderenorts sagen in der Türkei zunächst alle wie aus einem Mund, dass
dieser Terror barbarisch ist und wie widerwärtig und schrecklich diese Taten sind.
Nach diesen Worten, die die Ermordung unschuldiger Menschen verdammen, wird
dann verschämte oder zornige Kritik hörbar, die mit einem »Aber« beginnt und
sich gegen die politische und wirtschaftliche Rolle Amerikas in der Welt richtet.

Es mag schwierig und womöglich ethisch verfehlt sein, über diese Rolle zu streiten,
solange alles von einem Terror überschattet wird, der aus seinem Hass gegen den
»Westen« einen künstlichen Gegensatz zwischen Islam und Christentum
herzustellen versucht und dafür in unfassbarer Grausamkeit unschuldige Menschen
umbringt. Aber man möchte doch etwas sagen, denn mit dem Eifer der
gerechtfertigten Empörung gegenüber diesem barbarischen Terror werden jetzt
Dinge öffentlich ausgesprochen, die dazu rühren können, dass aus einem ganz und
gar nicht gerechten Gerechtigkeitsgefühl und nationalistischem Zorn heraus weitere
unschuldige Menschen getötet werden.

Inzwischen weiß jeder, dass es den künstlich erzeugten Konflikt zwischen »Ost«
und »West« nur vertiefen und dem Terrorismus, der bestraft werden soll, nur
nützen wird, wenn das amerikanische Militär in Afghanistan oder anderswo
unschuldige Menschen bombardiert, um die eigene Bevölkerung zu beruhigen. Es
ist heute moralisch inakzeptabel, über den Tod der mit unglaublicher
Mitleidlosigkeit umgebrachten Menschen hinweg die amerikanische Herrschaft
über die Welt zu hinterfragen. Aber es muss unsere Sache sein, zu verstehen,
warum bei den armen Völkern der Welt, marginalisierten Nationen, die ihre
Geschichte nicht selbst bestimmen können, Millionen von Menschen so wütend auf
Amerika sind - auch wenn es eine blinde Wut ist. Wir sind dabei nicht gezwungen,
dieser Empörung stets recht zu geben. Außerdem wird in vielen Ländern der dritten
und der islamischen Welt Antiamerikanismus eingesetzt, um vom Fehlen von
Demokratie abzulenken und die Macht des jeweiligen Diktators zu steigern. Es
ermutigt niemanden, der sich um die Durchsetzung einer säkularen Demokratie in
den islamischen Ländern bemüht, wenn Amerika enge Beziehungen zu
geschlossenen Gesellschaften anknüpft, die, wie etwa Saudi-Arabien, so handeln,
als hätten sie geschworen, der Welt zu zeigen, dass Islam und Demokratie sich
nicht vertragen. Genauso hilft ein oberflächlicher Antiamerikanismus - wie etwa in

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der Türkei -, zu verbergen, dass die Regierenden das Geld, das sie von
internationalen Finanzinstituten empfangen, durch Betrug und Unfähigkeit
vergeuden und dass der Unterschied zwischen Arm und Reich im Land
unerträgliche Ausmaße angenommen hat.

Wer heute militärischen Operationen uneingeschränkt zustimmt, die vor allem die
amerikanische Kriegsmacht demonstrieren und in einer symbolischen Aktion den
Terroristen »eine Lehre erteilen« sollen, wer heute mit dem Vergnügen von
Videospielern im Fernsehen diskutiert, welche Ziele amerikanische Flugzeuge
wohl bombardieren werden, der muss wissen, dass hastig und unbedacht ergriffene
militärische Maßnahmen bei Millionen Menschen in den islamischen Ländern und
den armen Teilen der Welt Feindschaft gegen den Westen fördern und ihr Gefühl
von Minderwertigkeit und Hilflosigkeit steigern. Was den Terrorismus nährt, der
sich einer in der Menschheitsgeschichte einmaligen Barbarei und großer Kreativität
bedient, ist weder der Islam noch die Armut selbst, sondern es sind die Gefühle von
Hilflosigkeit und Minderwertigkeit, die sich wie ein Krebsgeschwür in den Ländern
der dritten Welt verbreitet haben.

In der Geschichte der Menschheit war der Unterschied zwischen Arm und Reich
nie so groß wie heute. Man mag sagen, dass der Reichtum der reichen Länder ihr
eigener Erfolg ist und die Armen der Welt nichts angeht. Aber in der Geschichte
der Menschheit wurde den Armen das Leben der Reichen durch Fernsehen und
Hollywoodfilme auch noch nie so sehr vor Augen geführt. Man mag einwenden,
dass Märchen über das Leben der Könige die Unterhaltung der Armen seien. Noch
schlimmer ist aber, dass die Reichen und Mächtigen der Welt noch nie so
gerechtfertigt und vernünftig erschienen. Ein durchschnittlicher Bürger eines armen
undemokratischen islamischen Landes und ein Beamter in irgendeinem
Drittweltland oder einem Reststaat einer alten sozialistischen Republik, der mit
Mühe das Monatsende zu erreichen versucht, weiß nicht nur, dass vom Reichtum
der Welt auf ihn nur äußerst wenig entfällt und dass er dazu verurteilt ist, ein Leben
zu führen, das verglichen mit dem im »Westen« unter sehr viel härteren
Bedingungen verlaufen und sehr viel kürzer sein wird, sondern er ahnt in einem
Winkel seines Bewusstseins, dass sein Elend seine eigene Schuld oder die seines
Vaters oder Großvaters ist.

Der Westen hat leider kaum eine Vorstellung von diesem Gefühl der Erniedrigung,
das eine große Mehrheit der Weltbevölkerung erlebt und überwinden muss, ohne
den Verstand zu verlieren oder sich auf Terroristen, radikale Nationalisten oder
religiöse Fundamentalisten einzulassen. In diesen fluchbeladenen privaten Bereich
können weder die Romane des magischen Realismus, in denen die Armut und
Dummheit als liebenswert beschrieben werden, noch der Exotismus populärer
Reiseliteratur eindringen. Aber in genau diesem Bereich rührt die Mehrheit der
Weltbevölkerung ihr bemitleidenswertes Seelenleben: erniedrigt, geringgeschätzt
und mit einem leichten Lächeln, mit Mitleid vertröstet. Heute ist das Problem des
»Westens« weniger, herauszufinden, welcher Terrorist in welchem Zelt, welcher
Höhle, welcher Gasse, welcher fernen Stadt einen neuen Anschlag vorbereitet, um

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dann Bomben regnen zu lassen. Das Problem des Westens ist vielmehr, die
seelische Verfassung der armen, erniedrigten und sich stets im »Unrecht«
befindenden Mehrheit zu verstehen, die nicht in der westlichen Welt lebt. Dabei
bewirken Kriegsgeschrei, nationalistische Reden und eilig entfesselte
Militäroperationen das genaue Gegenteil. Die neuen Visa - Bestimmungen der
Schengen-Länder, Polizeimaßnahmen, die die Bewegungen von Moslems und
Angehörigen armer Staaten erschweren, eine misstrauische Haltung allem
gegenüber, was islamisch oder nichtwestlich ist, eine grobe und aggressive
Sprache, die die ganze islamische Zivilisation mit Terror und Fanatismus
gleichsetzt: All das entfernt die Welt jeden Tag weiter vom Frieden. Was einen
armen alten Mann in Istanbul - und sei es für einen Augenblick der Empörung - den
Terror in New York gutheißen lässt oder einen von israelischem Druck
eingeschüchterten palästinensischen Jugendlichen bewundernd zu den Taliban
aufschauen lässt, die Frauen mit Salpetersäure das Gesicht verätzen, ist weder die
islamische Zivilisation noch der Unsinn, den man als Konflikt zwischen Orient und
Okzident bezeichnet, oder gar die Armut selbst, sondern die Ausweglosigkeit,
erniedrigt zu werden, sich nicht verständlich machen zu können, nicht gehört zu
werden.Auch die reichen Modernisten, die die Türkische Republik gründeten,
haben auf den Widerstand der armen und zurückgebliebenen Landesteile nicht mit
Verständnis, sondern mit Polizeimaßnahmen, Verboten und Militärgewalt reagiert.
Die Modernisierung blieb schließlich unvollendet; es entstand in der Türkei eine
Demokratie, in der Verständnislosigkeit regiert. Wenn jetzt der Eindruck entsteht,
in der ganzen Welt werde zu einem Krieg zwischen Orient und Okzident
aufgerufen, befürchte ich, dass die Welt zu einem Ort wird, der wie die Türkei im
dauernden Ausnahmezustand regiert wird. Ich befürchte, dass der selbstzufriedene
und selbstgerechte westliche Nationalismus den Rest der Welt zwingt, wie
Dostojewskis Mann im Kellerloch zu sagen, dass zwei mal zwei fünf sei. Was den
Islamisten, die Frauen das Gesicht mit Salpetersäure verätzen, weil sie es
entblößen, am meisten hilft, ist das aggressive Unverständnis des Westens.

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„Die Welt” 2.8.2008
Die Demokratie – ein Auslaufmodell
Immer weniger Deutsche sind von der Demokratie überzeugt. Wer oder was kann
sie noch retten?
VON HARALD WELZER

Demokratie scheint langsam aus der Mode zu kommen, und zwar national wie
international. Im Augenblick sieht es jedenfalls nicht danach aus, dass die
Schwellenländer, die dem Rausch der Turbomodernisierung frönen, zugleich auch
dem demokratischen Gesellschaftsmodell des Westens folgen wollen. Und dort,
zum Beispiel in der Bundesrepublik, beginnen immer mehr Bewohner daran zu
zweifeln, dass sie in der besten aller denkbaren politischen Welten leben. So hat

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eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich ermittelt, dass fast jeder dritte
Deutsche der Auffassung ist, die Demokratie funktioniere schlecht; unter den
Ostdeutschen waren sogar 60 Prozent dieser Meinung. Ein Viertel der Befragten
wollten „mit der Demokratie, wie sie bei uns ist”, nichts mehr zu tun laben. Das
sind, wie die sinkende Wahlbeteiligung genauso zeigt wie der Mitgliederschwund
in den Parteien, keine zufälligen Befunde, sondern Momentaufnahmen eines
Trends: Von der Mitte der 70-er Jahre bis 1990 lag die Demokratiezustimmung
stabil bei 75 Prozent, seither hat ein Erosionsprozess begonnen, den nicht nur die
Demoskopen, sondern vor allem auch die Parteien registrieren. Die Volksparteien
haben in einem Vierteljahrhundert die Hälfte aller Mitglieder verloren, obwohl
noch ein komplettes Set an Bundesländern dazugekommen ist. Das muss man erst
mal schaffen.

Die Rolle der Seismografen bei diesen tektonischen Verschiebungen in der
demokratischen Landschaft der Bundesrepublik übernehmen einstweilen noch die
üblichen Verdächtigen, also die Langzeitarbeitslosen, Hartz-IV-Empfänger und
schlecht Qualifizierten - hier fallen die Umfragewerte zum Demokratievertrauen
katastrophal aus. Aber seit das fatale Zusammenspiel von Globalisierungsfolgen,
steigenden Energiekosten und fehlender politischer Fantasie zunehmend auch die
Mittelschichten in einen gefühlten Abwärtssog zieht, beginnen sich offenbar auch
in der Mitte der Gesellschaft Zweifel an der Funktionsfähigkeit des Systems breit
zu machen. Jedenfalls weisen die regelmäßig durchgeführten Umfragen der Gruppe
um den Bielefelder Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer nachdrücklich
auf ein sich verbreitendes Unbehagen an der Demokratie hin. Hier finden bis zu 90
Prozent der befragten Deutschen, dass die demokratischen Parteien schwierige
Probleme schlicht nicht lösen können, und fast alle sind der Auffassung, dass die
Eliten vor allem an ihrem eigenen Wohlergehen interessiert sind. Die Korruption in
den Chefetagen großer Konzerne dürfte den Eindruck kollektiver
Verantwortungslosigkeit seit der letzten Befragung 2006 ebenso untermauert haben
wie die Finanzkrise.

Es kommen also zwei Dinge zusammen: die Probleme auf dem Arbeitsmarkt, mit
der Energie, mit dem Klima, mit der Zukunft überhaupt, werden größer, und
diejenigen, denen man Lösungskompetenz zutraut, werden immer weniger. Dass
das Demokratievertrauen schwindet, zeigen mithin nicht einfach wachsende
autoritäre Tendenzen an, sondern spiegelt auch die Hilflosigkeit der politischen
Eliten, Zukunftsprobleme in den Griff zu kriegen. Genau deshalb erscheint ein
Präsidentschaftskandidat wie Barack Obama als Heilsbringer selbst für die, die gar
keine Amerikaner sind. Von Charisma, gar von visionärem, ist bei den Becks und
Oettingers dieser Republik eben so gar nichts zu sehen. Das ist auch der Grund,
weshalb man den Erosionsprozess in Sachen Demokratie ernst nehmen muss: Er
spiegelt auf der einen Seite die Zukunftsängste derjenigen, die sich als
Modernisierungsverlierer wahrnehmen, zugleich aber auch die realistische
Einschätzung, dass die Eliten auch nicht wissen, wie es nun weitergehen soll.
Niemand hat zum Beispiel auch nur die geringste Idee, wie den mit Sicherheit
steigenden Energiekosten und den damit verbundenen wirtschaftlichen Problemen

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beizukommen wäre, von den Folgen des Klimawandels zu schweigen. Der
Vertrauensschwund in die Demokratie hat Zukunft. Übrigens nicht nur dann, wenn
man sorgenvoll durch die Umfragen blättert, sondern auch, wenn man den Blick
nach außen wendet und erstaunt feststellt, dass in den sogenannten Schwellenländer
das Modell der westlichen Demokratien eines der wenigen Dinge ist, die zu
kopieren sich nicht lohnt. Dabei ging die westliche Staatstheorie mit einiger
Selbstsicherheit noch bis vor kurzem davon aus, dass der wirtschaftlichen
Liberalisierung mit Naturnotwendigkeit auch die politische auf dem Fuße folgen
würde - wer „Ja” zum Kapitalismus sagt, so die Theorie, müsse auch die
Demokratie in Kauf nehmen, und auf diese Weise, so die Hoffnung, wäre die Welt
über kurz oder lang ein einziger großer Westen geworden. Da sind die Chinesen
aber anderer Meinung, und ausgerechnet hier stimmen sie mal mit den Russen
überein: Kapitalismus geht auch ohne Demokratie, und sogar viel schneller.

Die umständlichen Prozeduren der Meinungs- und Urteilsbildung, der Vorlagen,
Anhörungen, Feststellungen und Abstimmungen, all das zeitraubende Zeug kann
man in Autokratien weglassen und einfach losmodernisieren. Wo hierzulande die
Einrichtung eines Windparks zu einer jahrelangen Angelegenheit wird, pflanzt ein
Zentralkomitee Kohlekraftwerke im Wochentakt in die Landschaft, und zwar ohne
zu fragen, was irgendjemand davon wohl halten mag.

Der Verzicht auf Demokratie erweist sich hier nicht als Hemmschuh der
Entwicklung, sondern als Modernisierungsbeschleuniger, und wer sieht, wie subtil
die chinesische Führung daran arbeitet, das Systemvertrauen durch die
Abmilderung von Härten und die Verteilung von Gratifikationen stabil zu halten,
wird nicht meinen, dass dieses System nur deshalb verlieren wird, weil es nicht
demokratisch ist. So führt die wirtschaftliche Globalisierung zu Verschiebungen in
der Tektonik der Weltgesellschaft. Die Länder des traditionellen Kapitalismus
driften zunehmend aus dem Zentrum der globalen Veränderungsdynamik und sind
schon Zuschauer eines Spiels geworden, in dem sie sich noch für die
Hauptdarsteller halten. Ein relativer Machtzuwachs in einem Teil der Welt ist aber
gleichbedeutend mit einem relativen Machtverlust in einem anderen, und diese
möglicherweise fatale Gleichung wurde in der saturierten Gewissheit über die
Erfolgsträchtigkeit des westlichen Modells lange nicht zur Kenntnis genommen,
schon gar nicht nach dem scheinbaren Sieg des Westens über den Osten nach 1989.
Wer hätte gedacht, wie schnell sich sogar die eigene Welt verändern kann? Zu viel
Erfolg macht unaufmerksam.Mit dem Schwinden des Modellcharakters des
Westens gerät die Demokratie also auch von außen unter Druck; andere Wege in
eine Moderne, die wir gar nicht kennen, zeichnen sich ab, und so wie es aussieht,
werden sie zumindest so lange erfolgreich sein, bis die ökologischen Probleme
auch dem Turbokapitalismus neuen Typs einen Strich durch die Rechnung machen.
Das Auslaufen des westlichen Modernisierungsmodells in globaler Perspektive und
das Schwinden des Demokratievertrauens hierzulande haben miteinander zu tun:
denn die Globalisierungsverlierer in den westlichen Ländern spüren eben als erste,
dass Vertrauen in die Wohlstandsversprechen des Nationalstaates nicht mehr
angebracht ist. Ein Facharbeiter konkurriert eben schon längst nicht mehr auf einem

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lokalen Arbeitsmarkt, sondern auf einem internationalen. Der blitzartige soziale
Abstieg, im einstigen Wirtschaftswunderland bloß eine Angelegenheit für
irgendwie aus der Bahn Geworfene, wird zum jederzeit möglichen biografischen
Ernstfall.

Dass sich die Leute in solchen Situationen vom Staat verlassen fühlen, und damit
auch von der Demokratie, ist nicht schwer zu verstehen, gerade weil der nicht
aufgehört hat, Fürsorgebereitschaft zu behaupten, wo er sie in Wirklichkeit gar
nicht mehr leisten kann. Daher muss auch die immer lauter werdende Forderung
nach Kompensation der gerade für die unteren und mittleren Einkommensgruppen
dramatisch steigenden Energiekosten in Enttäuschung umschlagen: Keine
Demokratie der Welt kann dafür einstehen, wenn Ressourcen knapper und damit
teurer werden; wenn sie Vertrauen erhalten will, muss sie paradoxerweise sagen,
dass sie es nicht kann. Wie verheerend wird es sich also auf die Demokratie in der
Bundesrepublik auswirken, wenn bis in die Mittelschichten hinein steigende
Energiekosten den Lebensstandard sinken lassen? Was, wenn die Bezieher von
niedrigen Einkommen ihre Wohnungen nicht mehr heizen können?

Soziale Gebilde, das weiß Jeder aus dem privaten Bereich, sind nie stabil. Sie
können schnell in Existenz- und Legitimationsprobleme geraten, und ebenso
schnell können sie kaputtgehen, wenn der gefühlte Druck, etwas ändern zu müssen,
zu groß wird. Mit sozialen Großgebilden wie Staaten ist das nicht viel anders, auch
wenn die Institutionen hier die Rolle von Stabilisatoren übernehmen. Was aber,
wenn Institutionen wie die Parteien, die Gewerkschaften, die Kirchen, die
Einrichtungen der Gesundheits- und Sozialversorgung dieser stabilisierenden
Funktion kaum noch nachkommen können? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts
mit seinen Diktaturen und Gewaltsystemen, mit seinen Revolutionen und
Systemzusammenbrüchen zeigt, dass Vertrauen in die Stabilität gesellschaftlicher
Verhältnisse prinzipiell unangebracht ist; die Dinge können ziemlich schnell in
Bewegung geraten und sich ebenso schnell jeder Steuerung entziehen. Die
Geschichte zeigt auch, dass Menschen unter Bedingungen von Druck und
Bedrohungsgefühlen zu Haltungen und Entscheidungen neigen, an die sie nur kurze
Zeit zuvor nicht im Traum gedacht hätten.

Deshalb sollten die bedenklichen Umfragewerte als Anlass dafür genommen
werden, darüber nachzudenken, wie unsere Demokratie modernisiert werden kann.
Integration bedeutet Teilhabe, nicht Versorgung, und die muss durch innovative
Formen direkter Demokratie gestärkt werden. Es ist absurd: Je besser die
Kommunikationsmedien werden, desto weniger sind die Eliten in der Lage, zu
vermitteln, was und warum sie etwas tun. Die Zukunft der westlichen Demokratie,
wenn sie denn eine hat, liegt in der Erhöhung von Teilhabe und Mitsprache, nicht
in ihrer Reduzierung. Weil sich Menschen nur auf diese Weise mit dem
Gemeinwesen identifizieren, dass sie selber bilden. Suggeriert der Staat dagegen
nur einen Willen zur Integration und Fürsorge, die er gar nicht gewährleisten kann,
untergräbt er selbst die Fundamente des Demokratischen. Er verzichtet

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achselzuckend auf das Engagement derjenigen, die auf der Strecke bleiben. So wird
er selbst zum Globalisierungsverlierer - und mit ihm die Demokratie.

Der Autor ist Professor für Sozialpsychologie am Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen.
Bei S. Fischer erschien kürzlich sein Buch „Klimakriege”.


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Holt Gott zurück!
Aus PETER HAHNE: „Schluss mit lustig” S. 84 ff. (johannis- verlag 2004)



Als beim Prager »Forum 2000« führende Persönlichkeiten aus aller Welt über
Zukunftsfragen diskutierten, meinte Tschechiens damaliger Staatspräsident Vaclav
Havel: »Zunehmende Gottlosigkeit ist mitverantwortlich für die derzeitigen
globalen Krisen.« Besonders dramatisch sei der daraus resultierende »weltweite
Mangel an Verantwortung«. Die Moral wird privatisiert, gesellschaftliche
Maßstäbe und allgemein verbindliche Sinnorientierungen gehen verloren. Als
Resultat bleibt der Verlust sozialer Lebensqualität.

Halten wir uns den Spiegel vor: Kneipen und Kinos sind voller als Kirchen.
Nächstenliebe leidet an Magersucht. Minister schwören nicht zu Gott. Das Goldene
Kalb ist populärer als die Zehn Gebote. Nicht Religion und Glaube, sondern
Wissenschart und Fortschritt, Konsum und Kommerz sind die stärksten
Schubkräfte der Geschichte. Doch schon Goethe analysierte messerscharf: »Alle
Epochen, in denen der Unglaube einen kümmerlichen Sieg behauptet,
verschwinden vor der Nachwelt, weil sich niemand gern mit der Erkenntnis des
Unfruchtbaren abquälen mag.«

Deshalb der Appell von Alexander Solschenizyn, der im Juni 1994 zur
Titelschlagzeile der »Welt« wurde: »Holt Gott zurück in die Politik!« Der russische
Dichter und Denker, Dissident und Nobelpreisträger hat die düstere Prophezeiung
seines Autorenkollegen Dostojewski am eigenen Leib im eigenen Land erlebt: »Ein
Volk ohne Bindung an Gott geht kaputt. Wenn Gott nicht existierte, wäre alles
erlaubt.« Wir bezahlen bitter, was der Mathematiker-Philosoph Blaise Pascal schon
im 17. Jahrhundert beschrieb; »Die Mitte verlassen heißt die Menschlichkeit
verlassen.« Humanität ohne Divinität führt zur Bestialität. Die Abschaffung Gottes
führt nicht ins Vakuum. »Die verlassenen Altäre werden von Dämonen bewohnt«
(Ernst Jünger). Der Thron ist leer, aber alle wollen drauf.

In der schrecklichen Nazizeit hat sich der arische Wundermensch zu seinem
eigenen Gott gemacht. Das Ende kennen wir. Im Mai 1936 schrieb die vorläufige
Leitung der evangelischen Kirche an Hitler:
»Unser Volk droht die ihm von Gott gesetzten Schranken zu zerbrechen: Es will
sich selbst zum Maß aller Dinge machen. Das ist menschliche Überheblichkeit, die
sich gegen Gott empört.« Das darf sich nie wiederholen!

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Der katholische Religionsphilosoph Romano Guardini fragt uns im Blick auf die
Wissenschaftsethik ironisch-besorgt: »Wird der Mensch der Technik
nachwachsen?« Die Erkenntnis von Novalis hat sich heute ins Gegenteil verkehrt:
»Ein Schritt in der Technik erfordert drei Schritte in der Ethik.«

Wie rückschrittlich wir da heute sind, zeigt die Debatte um Lebensschutz und
Bioethik. Als gäbe es weder mitmenschliche noch moralische Maßstäbe, werden
die Fragen der reinen Zweckmäßigkeit geopfert. Dabei liefert gerade hier die Frage
nach Gott und dem Glauben den eigentlichen Fort-Schritt der Humanität. Ein
Beweis für seine gesellschaftliche Relevanz und dafür, welch hohen Preis wir für
dessen Verlust bezahlen.Die wichtigste Unterscheidung, die der Glaube macht, ist
nämlich die zwischen Gott und Mensch. Wenn der Glaube von Gott spricht, meint
er den Schöpfer. Und damit weist er dem Menschen seinen Platz zu: als Geschöpf.
Das hat fundamentale Wirkung für alle gesellschaftlichen Bezüge. Wenn der
Glaube den Menschen in ein Verhältnis setzt, dann verhindert er, dass der Mensch
Maß aller Dinge ist.Dass dies alles andere als theoretisches Philosophieren ist und
es dabei um alles oder nichts geht, zeigt die aktuelle Diskussion um die
Neudefinition des Begriffs Menschenwürde mit dem fatalen Konzept einer
»abgestuften Menschenwürde«. Dabei wird der vom Grundgesetz geschützte Wert
immer häufiger mit Freiheit, Handlungsfähigkeit, Bewusstsein oder Jugendlichkeit
in Verbindung gebracht. Sind diese Kriterien nicht mehr erfüllt, wird schnell statt
von einem menschenwürdigen Leben von einem menschenwürdigen Sterben
gesprochen.

Wohin das führt, erleben wir in Holland hautnah: Während wir in Deutschland
noch für Patientenverfügungen werben, geben die Niederländer notariell
»Lebenswunsch-Erklärungen« ab. Bereits drei Jahre nach dem bejubelten liberalen
Sterbehilfe-Gesetz haben sich die schlimmsten Befürchtungen der Konservativen
dramatisch bewahrheitet: Immer mehr alte Menschen sterben durch die Hand des
Arztes nicht auf eigenen, sondern ihrer Verwandten (und Erben!) Wunsch. Die
Meldepflichten werden einfach ignoriert und die Kriterien der Euthanasie
großzügig ausgelegt. In diesem Klima kann es nicht verwundern, wenn die ohnehin
unbestimmten Begriffe »unerträgliches und aussichtsloses Leiden« inzwischen
auch dazu dienen, die Tötung eines Alzheimerpatienten im Frühstadium (!) der
Krankheit zu rechtfertigen. So makaber es klingt: In Holland ist man seines Lebens
nicht mehr sicher. Und das gilt für jede Gesetzgebung, die den Menschen zum Maß
aller Dinge macht.

Holt Gott zurück in die Politik - das heißt dann: Holt das Maß zurück. Den
Maßstab, an dem sich alles messen lassen muss. Denn wenn Gott weichen muss
und der Mensch an die erste Stelle tritt, sind Extremismus und Fanatismus die
Folge. Der atheistische Fundamentalismus ist die größte Bedrohung unserer
Gesellschaft. Unter dem Minuszeichen der Gottlosigkeit gerät alles auf die schiefe
Bahn. Wo immer in der Welt einer nicht mehr weiß, dass er höchstens der Zweite
ist, da ist bald der Teufel los. Der Philosoph Max Scheler nennt es

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»metaphysischen Leichtsinn« zu meinen, der Mensch könne alles selbst und
brauche Gott nicht.

Christus oder Chaos - so lautete die provozierende, aber messerscharfe These
hellsichtiger Christen nach dem Zweiten Weltkrieg und der barbarischen
Nazidiktatur. Zum Beispiel Wilhelm Busch mit seinem noch heute aktuellen
Bestseller »Jesus unser Schicksal«. Man kann nämlich den, der zur Rechten Gottes
sitzt, nicht einfach links liegen lassen. Und wer vor Gott knien kann, der kann vor
Menschen gerade stehen. Es gibt keine Ethik ohne Religion.

Ich kann nach keiner Orientierungsmarke segeln, die ich mir selbst an den Bug
meines Schiffes genagelt habe. Letzte Ausrichtung, der es kompassgenau zu folgen
gilt, kann nur außerhalb von mir sein. Die tapferen Christen der Bekennenden
Kirche während des Dritten Reiches hatten das Motto: »Teneo quia teneor« - ich
halte stand, weil ich gehalten werde.


Überfällige Antworten. Von Günter Nicke

Zwei treffsichere Analysen, sowohl eines symptomatischen, aber mehr
zufällig ins Auge gekommenen Defekts der Welt, in der wir leben und der
sich zu Katastrophen auswachsen wird in der Welt, in der unsere Kinder
leben werden, als auch der Abnutzung unserer Staatsdoktrin, auf die wir
nach dem Weltkrieg II‐Zusammenbruch trotz der Aufoktruierung durch
die Siegermächte erst so stolz waren. Und drittens schließlich – zwar in
reißerisch‐journalistischem Stil geschrieben und dem Leser die teils
unpassenden Quellen nur so um die Ohren gehauen – doch in einem
wichtigen Punkt ebenfalls so klar in der Analyse wie die beiden anderen,
den Verlust des Wertesystems in den politischen Angelegenheiten
betreffend.

Diese Analysen, die den Texten

„Der Zorn der Verdammten” aus „Blick aus meinem Fenster” von
ORHAN PAMUK, Literatur‐Nobel‐Preisträger

„Die Demokratie – ein Auslaufmodell” ‐ Immer weniger Deutsche
sind von der Demokratie überzeugt. Wer oder was kann sie noch
retten? VON HARALD WELZER aus „Die Welt” 2.8.2008

„Schluss mit lustig” von PETER HAHNE, Kapitel ‚Holt Gott zurück’
Seite 84 ff.

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entnommen sind, schreien nach Antworten, nach realisierbaren Visionen
zur Überwindung der Existenzkrise der ganzen Gattung ‚Mensch’ auf
unserem von außen immer noch so überirdisch herrlich anmutendem
Planeten.

Aber wo einhaken, wo anfangen, wo aufhören?

Zunächst, wer hier mitmachen will, muss vorher die angegebenen Texte
lesen und deshalb sind sie einleitend wiedergegeben.

Warum gerade diese Texte? Weil sie gerade zur Hand waren, weil sie
inspirierten zu dem hier Niedergeschriebenen. Natürlich gibt es viele
andere Ansatzpunkte für solch ein essentielles Thema. Lasst es uns ‚Zufall’
nennen, dass es gerade diese Autoren sind, die Anlass für die folgenden
Betrachtungen sind.

Wir konstatieren: Die Welt, in der wir leben, ist seit längerer Zeit aus dem
Gleichgewicht geraten; erst unmerklich, weil niemand einen global
umfassenden Blick hatte ‐ noch nicht haben konnte. Aber heute ‐ im
Zeitalter der erdumspannenden Informationsnetzwerke ‐ könnte jeder
diesen Blick haben, wenn er denn durch Erziehung und Bildung darauf
vorbereitet worden wäre. Pessimismus und kollektive Depression greifen
um sich in den Gebieten des relativen materiellen Wohlstandes, Zorn und
Wut über ein durch den Egoismus der reichen Länder und der lokalen
Machteliten verursachte Unmöglichkeit, der puren Not zu entrinnen,
ruinieren die menschliche Würde in den mehrheitlich armen Gegenden des
Planeten. Für alle wird die Luft zum Atmen knapp; Kriege um immer
knapper werdendes Süßwasser werden für die Zukunft prognostiziert. Wie
kam es zu diesem Ungleichgewicht? Rekapitulieren wir kurz:

Die Religion des Christentums trat ihren Siegeszug noch in der antiken
Welt an. In dem es das klassische Altertum in der mediterranen Weltsphäre
ablöste, mutierte es unter dem Einfluss der von Nord‐Osten
herandrängenden Völkerwanderung zum mittelalterlichen Abendland. Der
Einfluss der jüdischen Religion, der seine Wiege war, wurde einerseits
weiter marginalisiert, andererseits aber assimiliert. Im zunächst fränkisch
dominierten Abendland wurde es zur Herrscher‐Legitimation sowohl im
politischen (Kaiser, Könige, Fürsten) wie auch im geistigen Bereich (Papst,
Kirche) bei gleichzeitig inhaltlich fortschreitender Degeneration des mit der
Ursprungsoffenbarung verkündeten Wertekodex. Das mittlere Mittel‐ und

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das Spätmittelalter sah dann die Auseinandersetzung mit dem Islam, der
sich schon ansatzweise als Fortsetzer und Vollstrecker des Christentums
sah und sich zunächst östlich der mediterranen Welt ungehemmt
ausgebreitet, auf der iberischen Halbinsel eine der kulturell fruchtbarsten
Exklaven gebildet hatte und nun durch die Vereinnahmung der heiligen
Stätten des Christentums im nahen Osten die Machteliten des Abendlandes
provozierte. Die Folge waren die Kreuzzüge und die Reconquista auf der
iberischen Halbinsel. Diese beiden Phänomene zusammen mit einem
letzten Aufflammen von kulturellen Höhepunkten in dem politisch schon
angezählten Byzanz leiteten im Abendland das Zeitalter der Renaissance
ein. Diese Wiedergeburt bewirkte nicht nur die Rückbesinnung auf die
Kultur der Antike, die zwar durch fanatische Christianisierung ‐ sowohl
durch christlich‐orthodoxen als auch ‐katholischen Einfluss im Abendland
als ‚satanisch’ systematisch verdrängt und zerstört worden war, sondern
auch die Öffnung gegenüber der islamischen Kultur, die gerade im Begriff
stand, ihren Zenith zu überschreiten. Diese Öffnung war es insbesondere,
die die in dieser Kultur aufbewahrten Erkenntnisse der Antike, aber auch
weiter entwickelten Werte wieder oder neu zugänglich machte und
darüber hinaus eine Brücke zu mittel‐ und fernöstlichen Kultureinflüssen
bildete. Die Wissenschaften im Abendland begannen zu blühen, zwar
anfänglich gegen den harten Widerstand der geistlich‐kirchlichen Eliten
(Inquisition), aber dann bei schwächer werdendem Widerstand trat eine
Säkularisierung ein, die vor allem den Naturwissenschaften fruchtbare
Freiräume eröffnete.

Mit Kolumbus begann das Zeitalter der Entdeckungen, dass letztlich die
Schaffung der großen Kolonialreiche (Spanien, Portugal, Niederlande,
England und Frankreich) bewirkte.

Die von kirchlicher Indoktrinierung befreite abendländisch‐westliche
Wissenschaft einerseits und die Kolonisierung andererseits bewirkten eine
weitgehende politisch‐wirtschaftliche Einverleibung fast des ganzen
Planeten in die inzwischen etablierten Nationalstaaten des Westens, Hand
in Hand gehend mit einer schamlosen Ausbeutung der unterworfenen
Völker, deren Menschen ohne jede Rücksicht auf den christlichen Werte‐
Kanon dabei als Untermenschen, teilweise wie Tiere angesehen wurden
(Sklaverei bis in die Neuzeit hinein).

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Die bis in unsere Moderne hineinreichenden Auseinandersetzungen
zwischen den in Konkurrenz stehenden europäischen Nationalstaaten
(nach deren Schwächung neuerdings wieder zwischen USA und Russland)
wurden in Form von nie da gewesenen Weltkriegen oder ungezählten
lokalen Konflikten der ganzen Menschengemeinschaft des Planeten
aufoktruiert.

Natürlich greift ein solcher Versuch, die oben skizzierte Weltlage historisch
hinreichend zu erklären, viel zu kurz. Umfassendere Studien – wie z.B. die
des englischen Geschichtsphilosophen Arnold Toynbee in seinem Werk „A
Study of History” wären neben vielen anderen heranzuziehen. Dennoch,
Orhan Pamuks Analyse der Probleme unserer Zeit wird durch die kurzen
Bemerkungen hinreichend erklärt und verstehbar.

Was die Abnutzung der demokratischen Staatsdoktrin betrifft, die den
Machtmissbrauch und die Unterdrückung der zuvor kolonialisierten und
dann bis heute systematisch ausgebeuteten übrigen Welt sichern half, so
beschreibt der Artikel von Harald Welzer neben dem Prozess als solchem
auch ansatzweise die Ursachen der Vertrauenserosion in dieses System.
Auch hier ist die Hauptursache in einer Degeneration der mit der
Französischen Revolution eingeführten Wertsurrogate „Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit” zu sehen, die eigentlich die ethisch‐moralischen
Grundwerte der Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts bilden sollten.
In der islamischen Welt seit je suspekt, ist das Wort „Demokratie” heute
zur leeren Worthülse verkommen. „Volksherrschaft” hat es in Wirklichkeit
nie gegeben, denn dazu hätte es einer durch Erziehung und Bildung mit
politischer Verantwortung ausgestatteten Bevölkerung bedurft.

Das Wichtigste aber hat Peter Hahne ‐ zwar ausweislich seines Buches aus
einer katholisch‐konservativen Ecke kommend – treffsicher erkannt, in dem
er Dostojewski zitiert: „Ein Volk ohne Bindung an Gott geht kaputt”.

Dostojewski meint damit sicher nicht den Gott der russisch‐orthodoxen
Kirche, nicht den katholischen oder evangelischen Gott, aber auch nicht
den Gott des Islam, des Hinduismus, der Gott der Zarathustrier usw. Vor
allem meint er nicht den Gott, auf den sich die degenerierten Machteliten
von Kirchen, Mullahs oder Politikern berufen. Er meint viel mehr den
Einen Gott aller Menschen ‐ ganz gleich, welchen Namen sie ihm auch
beigeben ‐ , der als einzige Instanz mit unanfechtbarer Autorität über
welchen Verkünder Seines Wortes auch immer in der Lage ist, ethisch und

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moralische Werte bzw. Wertsysteme einzusetzen oder zu widerrufen an
Orten und zu Zeiten, die er für richtig und erforderlich hält. Die Geschichte
der Menschheit ‐ vor allem die Geschichte der seit etwa 6000 Jahren in
Gang gekommene Kulturgeschichte unserer Spezies – ist auch und vor
allem eine Geschichte dieser Offenbarungen. (siehe.Toynbee, A Study of
History a.a.O)

Aus der durch die drei zitierten und wiedergegebenen Beiträge von Orhan
Pamuk, Harald Welzer und Peter Hahne angestoßenen Analyse und der
sicher zu unvollständig geratenen Darstellung der historischen
Entwicklung zu unserer Gegenwart hin ergeben sich die folgenden, nun
langsam überfälligen Antworten, die trotz der bedrängenden Situation
bislang nur visionär‐strategischen, denn taktisch‐realisierbaren Charakters
sein können:

1. Die ganze Menschheit braucht eine Rückbesinnung auf die drei Urfragen
unserer gemeinsamen Existenz als Spezies:

a. Woher kommen wir?
b. Wohin gehen wir?
c. Warum existieren wir?

2. Wir benötigen die Rückbesinnung auf die zweifelsfreie Sicherheit
der Tatsache, dass alle Kultur‐Evolution auf durch Offenbarung gegebene
Werte‐Codices beruht, also von außerhalb der Gesellschaft stammt, also
überirdischen Ursprungs ist.

3. Es ist in diesem Augenblick der Menschheitsgeschichte von allerhöchster
Dringlichkeit, dass sich jeder Mensch – unabhängig von Bildungsstand und
sozialem Status – auf die Suche nach dem durch neue Offenbarung
gesandten für uns Heutige geltenden Wertecodex macht.

4. Wir dürfen sicher sein, dass dieser Wertecodex bereits existiert, denn das
lehrt uns die Kulturgeschichte der Menschheit seit mehr als 6000 Jahren in
den verschiedenen Regionen des Planeten.

5. Eine mehr oder weniger banale Erkenntnis kann uns bei dieser Suche
helfen: Der eine neue Kulturblüte schaffende durch eine neue Offenbarung
gesandte Wertecodex kann sich nicht mehr nur auf eine im Niedergang

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befindliche regionale Kultur, sondern muss für die ganze planetare Gattung
Mensch gelten, weil die gegenwärtige Existenzkrise die Menschheit als
Ganzes auf unserem Planeten betrifft.

6. Je eher die Suche erfolgreich ist, d.h., je eher eine gewisse Zahl von
Menschen -  vergleichbar mit der kritischen Masse für die Kernspaltung in
der Atomphysik -  erreicht ist, die sich in den Dienst dieses neuen
Wertesystems stellen, desto eher wird der enorme gegenwärtige
Leidensdruck von der Mehrzahl der Menschen genommen werden.

 

 

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